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02.06.2021

Schiene VI: Rückenwind für Pauschalisierungsklauseln

Der Bundesgerichtshof stärkt in seinem jüngsten Urteil zum Schienenkartell Klägern in kartellrechtlichen follow-on Schadensersatzklagen erneut den Rücken: Bei der Beurteilung von vertraglichen Pauschalisierungsklauseln für Kartellschäden ist künftig ein kartellspezifischer Maßstab anzulegen

In seinem mittlerweile sechsten wegweisenden Urteil im Zusammenhang mit dem deutschen Schienenkartell befasst sich der Bundesgerichtshof (“BGH”) mit Schadenspauschalisierungsklauseln für Kartellverstöße. Nach Ansicht des Gerichtshofs sind solche Klauseln in Höhe von bis zu 15% der Auftragssumme (im konkreten Fall: 5%) zulässig. Auch wenn der BGH das der Revision zugrundeliegende Urteil des KG Berlin letztlich zur erneuten Verhandlung an das Instanzgericht zurückverweist, kann das Urteil als klägerfreundlich angesehen werden und wird die Durchsetzung privatrechtlicher Schadensersatzverlangen in Kartellfällen weiter erleichtern.

Sachverhalt

 Im Juli 2013 hatte das Bundeskartellamt gegen die Mitglieder des sog. Schienenkartells Bußgelder in Millionenhöhe verhängt. Die Kartellanten – Hersteller und Händler von Schienen, Weichen und Schwellen – hatten in der Zeit von 2001 bis zur Aufdeckung des Kartells in 2011 Preis-, Quoten- und Kundenschutzabsprachen in Ausschreibungsverfahren praktiziert. In der Folge machten zahlreiche öffentliche Verkehrsunternehmen wie die Klägerin Schadensersatzansprüche aufgrund von kartellbedingten Preiserhöhungen vor den Gerichten geltend.

In einer Reihe von Urteilen zu diesen sog. Follow-on Schadensersatzklagen im Nachgang zum Schienenkartell erteilte der Bundesgerichthof den Instanzgerichten seit 2018 zahlreiche sog. “Segesanweisungen” zur Beurteilung strittiger Fragen des Kartellschadensersatzrechts wie beispielsweise das Beweismaß für die Entstehung kartellbedingter Schäden (Aufgabe des Anscheinsbeweises für Kartellschäden in Schiene I1 und Existenz eines ökonomischen Erfahrungssatzes im Sinne einer tatsächlichen Vermutung in Schiene II2)), die gesamtschuldnerische Haftung der Kartellteilnehmer (Schiene III3), Preisschirmeffekte sowie die “pass-on defence” in Fällen der Schadensweiterwälzung (Schiene IV4 und V5).

Im Ende April 2021 veröffentlichten Schiene VI6 Urteil urteilt der BGH über eine Klage der Betreiberin des öffentlichen Nahverkehrs in Berlin, die im Kartellzeitraum von der Beklagten in mehreren Fällen Gleisoberbaumaterialien erworben hatte. Diesen Erwerbsvorgängen zugrunde lag ein Vertrag einschließlich Allgemeiner Geschäftsbedingungen, die eine Pauschalisierungsklausel vorsahen, wonach im Falle einer Wettbewerbsbeschränkung durch kartellrechtswidriges Verhalten von der Auftragnehmerin (hier: der beklagten Kartellantin) eine Schadenspauschale in Höhe von 5% der Abrechnungssumme an die Auftraggeberin (hier: die Klägerin) zu zahlen sein. Auf Grundlage dieser Klausel sprach das Berufungsgericht der Klägerin einen Schadensersatzanspruch in Höhe von rund EUR 26.000 zu. Der BGH hält diese Entscheidung im Wesentlichen aufrecht, weist da Urteil aber dennoch zur erneuten Entscheidung an das KG zurück, da das Instanzgericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Klägerin möglicherweise keinen oder einen geringeren Schaden als in der Pauschalisierungsklausel vorgesehen erlitten hat, einen falschen Beweismaßstab angelegt hat.

Rechtmäßigkeit der Pauschalisierungsklausel

Nach Auffassung des BGH führt in Rede stehende Pauschalisierungsklausel nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung der Beklagten/Auftraggeberin. In der der Beurteilung zugrunde liegenden Interessenabwägung geht der BGH dabei auf die Besonderheiten und Funktionen von Kartellschadensersatzansprüchen ein, nämlich:

  • die Schwierigkeiten der Bemessung der Höhe von Kartellschäden angesichts der Vielzahl der diese beeinflussenden Faktoren,
  • das Informationsdefizit des redlichen Klauselverwenders (= Klägers/Kartellgeschädigten) bezüglich dieser Umstände,
  • die Verringerung von Zeitaufwand und Kosten bei der Ermittlung der Schadenshöhe durch die Pauschalisierungsklausel;
  • der Beitrag der Klausel zu einem effektiven zivilrechtlichen Sanktionssystems mit zusätzlicher spürbarer Abschreckungswirkung bei Kartellverstößen;
  • die weniger schutzwürdigen Interessen des Beklagten=Kartellanten: durch seinen unredlichen Kartellverstoß ist überhaupt erst die Notwendigkeit entstanden, Aussagen zur Schadenshöhe treffen zu müssen

Pauschalisierungsklauseln bis zu 15% – Bezugnahme auf ökonomische Meta-Studien

Der BGH betont, das nach allgemeinen AGB-rechtlichen Grundsätzen eine rechtmäßige Pauschalisierungsklausel nicht den Schaden übersteigen darf, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwarten ist. hier kommt es regelmäßig auf den branchentypischen Durchschnittsschaden an, der vom Kläger darzulegen ist. Im Rahmen der klauselrechtlichen Überprüfung der Bemessung der Schadenspauschale  in Kartell-Schadensersatzverfahren ist indes ein an die Eigenarten der Bemessung und Abschätzung eines Kartellschadens angepasster Maßstab anzulegen: Es bedarf bei der Beurteilung der Pauschalisierungsklausel daher jedenfalls dann, wenn es an hinreichenden empirischen Erkenntnissen für eine branchentypische Schadenshöhe fehlt, keiner Darlegung eines branchentypischen Durchschnittsschadens durch den Kläger. Stattdessen reicht eine Bezugnahme auf ökonomische Meta-Studien, wie die 2009 von der EU Kommissi-on in Auftrag gegebene Oxera-Studie zu durch Kartellabsprachen verursachte Preiserhöhungen, aus.

Nach diesen Maßstäben ist die im zugrundeliegenden Fall verwendete Pauschalisierungsklausel in Höhe von 5% der gesamten Auftragssumme zulässig; in einem obiter dictum befindet der BGH sogar Klauseln in Höhe von bis zu 15% der Auftragssumme zulässig.

Geringerer Schaden als die Pauschale – Beweismaß für die Beklagte

Die pauschalierte Schadenshöhe muss nach den bei Vertragsschluss zur Verfügung stehenden Erkenntnissen gleichermaßen mit der Gefahr einer Über- wie einer Unterkompensation des Schadens verbunden sein. Zugleich darf es dem Kartellanten nicht verwehrt sein, nachzuweisen, dass kein oder nur ein geringerer Schaden als die vereinbarte Pauschale eingetreten ist. Der Kartellant trägt hierfür die Beweislast.

Für den Nachweis, dass kein oder nur ein geringerer Schaden als vereinbart eingetreten ist, gelten die gleichen Beweismaßstäbe für den Kartellanten wie sie nach der bisherigen Schienen-Rechtsprechung auch für den Kläger gelten, der darlegen will, dass ein kartellbedingter Schaden überhaupt entstanden ist. Insbesondere gilt das erleichtere Beweismaß des § 287 ZPO.

Kommentar

Die Schienen-Saga geht weiter. Das jüngste Urteil des BGH reiht sich in seine insgesamt kläger-freundliche Rechtsprechung in kartellrechtlichen Schadensersatzverfahren ein. Indem er einen weniger strengen, kartell-spezifischen Maßstab bei der Beurteilung der Pauschalisierungsklauseln anlegt als in “normalen” Verfahren, zollt der BGH den Besonderheiten kartellrechtlicher follow-on Klagen Tribut und damit auch dem Willen des deutschen und europäischen Gesetzgebers, die zivilrechtliche Verfolgung dieser Schadensersatzklagen weiter zu vereinfachen.

Durch das Urteil werden zukünftig nicht nur Kunden gehalten sein, eine Schadenspauschale in ihre Lieferverträge hineinzuverhandeln. Durch die Bezugnahme auf ökonomische Meta-Studien – die von Klägern oft zur Bemessung der Schadenshöhe bemüht werden – könnte das Urteil auch Auswirkungen auf andere anhängige Verfahren ohne solche Klauseln haben. Zu beachten ist allerdings, dass die Bezugnahme des BGH auf derartige Studien lediglich im Rahmen der AGB-rechtlichen Interessenabwägung erfolgt. Die Beurteilung der tatsächlichen Zuordnung von Kartellschäden unterliegt dagegen anderen Kriterien. Trotz des erleichterten Beweismaßes des § 287 ZPO müssen Gerichte im Rahmen der Beweiswürdigung zur Frage der Schadenshöhe stets die Umstände des Einzelfalles berücksichtigen. Ein schlichtes Berufen des Klägers auf Meta-Studien wird ihm hierbei wohl nicht weiterhelfen.

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