Am 26. Juni 2024 hat das Bundeskartellamt („BKartA“) seinen Jahresbericht 2023/2024 veröffentlicht.1 Wie im Vorwort von Dr. Robert Habeck (Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz („BMWK“)) und Andreas Mundt (Präsident des Bundeskartellamtes) betont wird, leben wir in Zeiten der allgemeinen Transformation. Ziel des BMWK und des BKartA ist es daher, durch die Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit eine neue wirtschaftliche Dynamik zum Nutzen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu entfachen. Neben Zahlen und Fakten2 enthält der Jahresbericht Informationen über die Prioritäten der aktuellen Agenda des BKartA wie das neue Wettbewerbsinstrument nach einer Sektoruntersuchung, die digitale Wirtschaft und die Kontrolle des Verhaltens großer digitaler Unternehmen, künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und Verbraucherschutz.
Durch Sektoruntersuchungen hat das BKartA die Möglichkeit, sich bei Anhaltspunkten für Wettbewerbsbeschränkungen einen Überblick über einzelne Wirtschaftsbereiche zu verschaffen. Obwohl dieses Instrument bereits seit 2005 besteht, hat der deutsche Gesetzgeber erst kürzlich im Rahmen der 11. GWB-Novelle4 im Jahr 2023 die Befugnisse des BKartA erweitert. Die Behörde kann nun verhaltensbezogene und strukturelle Abhilfemaßnahmen anordnen, um eine in einer Sektoruntersuchung festgestellte erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs zu beseitigen.5 Diese neuen Abhilfemaßnahmen setzen dabei keinen tatsächlichen Verstoß gegen das Kartellrecht oder ein individuelles Fehlverhalten eines Unternehmens voraus.
Während Minister Habeck das „New Competition Tool” mit seinen zusätzlichen Abhilfemaßnahmen im Anschluss an eine Sektoruntersuchung als „vierte Säule“ der deutschen Wettbewerbspolitik zur Schließung bestehender Lücken sieht, scheint BKartA-Präsident Mundt zurückhaltender zu sein, was dessen Wirksamkeit angeht, wie er kürzlich in einer Podiumsdiskussion andeutete.6 „§ 32f GWB scheint aufgrund seiner Komplexität schwierig anwendbar zu sein und kann daher in erster Linie als „Lobby-Erfolg” gewertet werden. Aber eines ist sicher: Unklarheiten werden vor Gericht geklärt!“7
Die digitale Wirtschaft ist seit vielen Jahren einer der Schwerpunktbereiche auf der Agenda des BKartA und das Amt gilt als eine der weltweit führenden Behörden bei der Verfolgung großer Technologieunternehmen. Seit 2021 ermöglicht § 19a GWB dem BKartA ein frühzeitiges und effektiveres Vorgehen gegen missbräuchliches Verhalten großer digitaler Plattformen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“. Da die früheren Einstufungen des BKartA zur überragenden Bedeutung von Alphabet/Google und von Meta/Facebook nicht von den betroffenen Unternehmen angefochten wurden,8 ist es die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. April 2024,9 mit der die Designierung von Amazon bestätigt wurde, die vom BKartA als großer Erfolg und Wegweiser für alle laufenden Verfahren gefeiert wird. Diese erste Entscheidung des Gerichtshofs im Zusammenhang mit § 19a GWB zeigt, dass die Kriterien für die Feststellung der überragenden Bedeutung eines Unternehmens klar genug und gerichtsfest sind. Angesichts des ständigen Wandels digitaler Märkte ist es aber dennoch denkbar, dass der deutsche Gesetzgeber zu gegebener Zeit die jüngste Anregung der Monopolkommission berücksichtigen wird, die Kriterien zur Bestimmung der überragenden Bedeutung nach § 19a Abs. 1 S. 2 GWB zu modifizieren, um möglichen Risiken innerhalb der sich ständig weiterentwickelnden digitalen Ökosysteme besser Rechnung zu tragen.10
In einem weiteren aktuellen § 19a GWB-Fall hat sich Google verpflichtet, seinen Nutzern eine ausreichende Wahlmöglichkeit einzuräumen, in die dienstübergreifende Datenverarbeitung des Unternehmens einzuwilligen oder diese abzulehnen.11 Dies gibt Google-Nutzern mehr Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten und verhindert gleichzeitig, dass Google ein ernsthafter Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Konkurrenten, die keinen Zugang zu einem vergleichbaren Datenvolumen haben, zukommt. Während des Verfahrens arbeitete das BKartA eng mit der EU-Kommission zusammen,12 da einige der von Alphabet/Google angebotenen Dienste nun auch in den Anwendungsbereich des Digital Markets Act („DMA“) fallen. Der DMA trat am 2. Mai 2023 in Kraft und sieht unter anderem bestimmte Verpflichtungen für benannte Gatekeeper in Bezug auf die Zustimmung der Nutzerinnen und Nutzer zur dienstübergreifenden Datenverarbeitung vor.
Darüber hinaus hat der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2023 die Rechtsgrundlage für die Rechtsdurchsetzung des DMA auf nationaler Ebene geschaffen. Das BKartA ist berechtigt, eigene Ermittlungen zu möglichen Verstößen gegen Art. 5-7 DMA durch die als Gatekeeper benannten Digitalunternehmen durchzuführen.13 Dabei ist die Behörde aber weiterhin verpflichtet, der EU-Kommission über das Ergebnis ihrer Untersuchungen zu berichten.14
Die Bestimmungen des DMA, die nur für die als Gatekeeper designierten Unternehmen gelten, ergänzen das deutsche und europäische Kartellrecht in Bezug auf das missbräuchliche Verhalten großer digitaler Unternehmen. BKartA-Präsident Mundt betont dabei die Schwierigkeit, die Anwendungsbereiche des § 19a GWB und DMA voneinander abzugrenzen. Zudem findet Mundt es „bedauerlich“, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht mit mehr Befugnissen zur Durchsetzung des DMA ausgestattet wurden, sondern mehr oder weniger nur dazu aufgerufen seien, Personal nach Brüssel zu entsenden, um die EU-Kommission in ihrer Rolle als alleinige Durchsetzerin des DMA zu unterstützen.15
Viele nationale Wettbewerbsbehörden wie die CMA im Vereinigten Königreich und die französische Autorité de la Concurrence haben sich bereits intensiv mit dem Zusammenspiel von künstlicher Intelligenz („KI“) und Kartellrechtsdurchsetzung befasst. Im vergangenen Jahr verpasste das BKartA die Chance, tiefer in die Welt der KI einzutauchen, da die Beteiligung von Microsoft an OpenAI, dem Unternehmen hinter ChatGPT, und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Unternehmen keine Anmeldepflicht nach dem deutschen Fusionskontrollrecht auslöste.16 Dennoch wird KI im aktuellen Jahresbericht des BKartA als eine Schlüsseltechnologie genannt, die es genau zu beobachten gilt. KI birgt nicht nur die Chance auf Wettbewerbsimpulse, sondern zugleich auch das Risiko, marktbeherrschende Stellungen zu zementieren und damit eine Gefahr für den Wettbewerb dazustellen.17 Bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023/2024 forderte BKartA-Präsident Mundt sogar eine gemeinsame europäische Cloud-Lösung und wies auf das Paradoxon hin, Verfahren gegen Big-Tech-Unternehmen zu führen und gleichzeitig deren Cloud-Dienste zur Speicherung der entsprechenden Akten zu nutzen. KI werde die von den Big Tech-Unternehmen in Gang gesetzte Entwicklung wahrscheinlich beschleunigen, während gleichzeitig die Gefahr besteht, dass die Gatekeeper die Türen zu ihren digitalen Welten schließen.
Es bleibt abzuwarten, ob das BKartA künftig mit den „aktiveren“ nationalen Wettbewerbsbehörden Schritt halten wird, um nicht nur die drohenden wirtschaftlichen, sondern auch die möglichen gesellschaftspolitischen Risiken zu bewältigen, die Präsident Mundt nicht verkennt. Das BKartA könnte dem Beispiel der CMA folgen und mehr Personal mit Fachwissen zum Verständnis von KI einstellen,18 oder dem der Autorité de la Concurrence. Diese empfahl beispielsweise der EU-Kommission, der Entwicklung von Diensten, die Zugang zu generativen KI-Modellen in der Cloud gewähren (MaaS), besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die Möglichkeit zu prüfen, Unternehmen, die solche Dienste anbieten, als Gatekeeper speziell für diese Dienste im Rahmen des DMA zu benennen.19
Auf EU-Ebene wird das Gesetz über künstliche Intelligenz20 („AI Act“) ab dem 2. August 2024 mit einer stufenweisen Einführung verschiedener Verbote über die nächsten drei Jahre gelten. Der AI Act zielt darauf ab, die Nutzung von KI-Systemen in der EU zu standardisieren und zu sichern, und führt einen umfassenden sektorübergreifenden Rahmen für die Entwicklung, den Einsatz und die Verbreitung von KI-Systemen ein.
Der Rechtsrahmen für die Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen hat sich in der EU in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt: Die neuen Horizontal-Leitlinien der EU-Kommission, die 2023 veröffentlicht wurden, enthalten erstmals ein separates Kapitel über die Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen zwischen Wettbewerbern.21 Darüber hinaus trat im Dezember 2021 Artikel 210a GMO (Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation22) in Kraft, gefolgt von den 2023 veröffentlichten zugehörigen Leitlinien der EU-Kommission.23 Die Norm sieht für Nachhaltigkeitsvereinbarungen zwischen Herstellern landwirtschaftlicher Produkte eine Freistellungsmöglichkeit vom Kartellverbot vor. Während der EU-Kommission seit der Veröffentlichung der Horizontal-Leitlinien noch keine Nachhaltigkeitsfälle zur Prüfung vorgelegt wurden,24 hat das BKartA in den letzten Jahren zahlreiche Anfragen zur Prüfung der Vereinbarkeit von Nachhaltigkeitskooperationen mit dem Kartellrecht erhalten.25 Kürzlich gab das BKartA beispielsweise grünes Licht für ein Recyclingsystem zur Reduzierung von Kunststoffabfällen im Pflanzenhandel.26
Es wird angenommen, dass die derzeit laufende 12..GWB-Novelle, zu der in Kürze ein erster Entwurf erwartet wird, die Vorschrift des § 210a GMO in nationales Recht umsetzt. Darüber hinaus wäre die Novelle eine Chance für den deutschen Gesetzgeber, die Relevanz von „Out-of-Market-Effizienzen“ von Kooperationen zu thematisieren, die sich nicht direkt für Verbraucherinnen und Verbraucher auszahlen, sondern allgemeinen Nachhaltigkeitszielen dienen. „Wir waren von den Horizontal-Leitlinien der EU-Kommission in diesem Punkt enttäuscht“, betonte der zuständige Referatsleiter des BMWK, Dr. Käseberg, kürzlich.27 Zur gleichen Zeit veröffentlichte der Wissenschaftliche Beirat des BMWK ein Gutachten zum Thema „Kartellrecht und Nachhaltigkeit“, in dem der Beirat Überlegungen ablehnt, den Kartellbehörden und Gerichten weitere Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in ihrer Entscheidungspraxis zu geben. Nach Ansicht des Beirats sei die Abwägung von Nachhaltigkeitszielen und Verbraucherwohl eine genuin politische Aufgabe, die nicht den Kartellbehörden übertragen werden sollte. Andernfalls bestünde die Gefahr einer Politisierung des Kartellrechts und einer Verwischung der Grenzen zwischen Kartellrecht und Regulierungsrecht.28 Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit Nachhaltigkeitsüberlegungen letztlich Eingang in die 12. GWB-Novelle finden werden.
Seit Mitte 2017 ist das BKartA auch mit begrenzten Kompetenzen im Bereich des Verbraucherschutzes betraut, um mögliche Defizite bei der Durchsetzung von Verbraucherrechten, insbesondere in der digitalen Wirtschaft, anzugehen. Seitdem hat das BAK sechs Sektoruntersuchungen im Verbraucherrecht durchgeführt: Im Mai 2023 veröffentlichte das BKartA den Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung zu Messenger- und Videodiensten, der sich mit den technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für diese Dienste befasst. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit. Im Juni 2024 deckte das BKartA im Rahmen einer weiteren Sektoruntersuchung Probleme beim Scoring im Online-Handel auf, worunter die weit verbreitete Vorgehensweise von Online-Händlern oder von diesen beauftragten Zahlungsdienstleistern zur Überprüfung der Bonität, d.h. der Zahlungsfähigkeit von Verbraucherinnen und Verbrauchern beim Online-Shopping fällt. Das BKartA stellte Mängel insbesondere in Bezug auf die Transparenz und die Bereitstellung von Informationen über die verwendeten personenbezogenen Daten fest.29
Trotz wiederholter Forderungen von BKartA-Präsident Mundt in der Öffentlichkeit wurden dem Amt bisher keine konkreten Eingriffsbefugnisse zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, z.B. eine Unterlassungsverfügung, eingeräumt.30 Im Rahmen der Überlegungen zur 12. GWB-Novelle werden erweiterte Eingriffsbefugnisse, insbesondere bei systematischen Rechtsverstößen von marktmächtigen Unternehmen, die eine Vielzahl von Verbrauchern betreffen, diskutiert.31
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