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26.06.2023

Fusionskontrolle unterhalb der Fusionskontrollschwellen: kein Thema … Jetzt könnte es eins sein!

M&A im Zusammenhang nicht anmeldepflichtiger Transaktionen (nach nationalem und EU-Fusionskontrollrecht) nach der Towercast-Entscheidung des EuGH

Im Zusammenhang mit M&A-Transaktionen haben sich Unternehmen und ihre Berater in der Vergangenheit auf einen scheinbaren “sicheren Hafen” verlassen und das Käst­chen “Fusionskontrolle” auf ihrer Liste an­ge­kreuzt, wenn die Schwellenwerte der EU- und der nationalen Fusionskontrolle durch einen geplanten Zusammenschluss nicht überschritten wurden. Nach 2021 haben sie möglicherweise bereits das Kästchen “Art. 22-Leitfaden”1 der Liste hinzugefügt, da die Europäische Kommission (“Kom­mis­sion”) das Verweisungssystem nach Art. 22 EU-Fusionskontrollverordnung (“FKVO”) nun so auslegt, dass die Mitgliedstaaten die Kommission um die Prüfung von Zu­sam­menschlüssen ersuchen können, auch wenn diese eigentlich unterhalb der Fusionskontrollschwellen “unter dem Ra­dar” fliegen. Leider müssen die Berater im Jahr 2023 ihre Liste erneut aktualisieren, indem sie ein neues Kästchen “Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung” hinzufügen: Der Gerichtshof der Europäischen Union (“EuGH”) hat in der Rechtssache Towercast2 entschieden, dass die nationalen Wett­be­werbs­behörden (“NWB”) der Mitglied­staa­ten nach Art. 102 des Vertrags über die Ar­beits­weise der Europäischen Union (“AEUV”) Zu­sammenschlüsse wegen Miss­brauchs einer marktbeherrschenden Stel­lung durch diesen Zusammenschluss rück­wirkend prüfen können, auch wenn ein solcher Zusammenschluss nicht nach den nationalen oder EU-Fusionskontroll­vor­schrif­ten anmeldepflichtig war und kein Mitgliedstaat eine Prüfung nach Art. 22 FKVO beantragt hat.

  • Kontrollkästchen “Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung”

Entscheidung des EuGH

Das Verfahren vor dem EuGH wurde im November 2017 durch eine Beschwerde von Towercast bei der französischen Wettbewerbs­behörde eingeleitet, die sich gegen die Über­nah­me des Zielunternehmens Itas durch TDF (Télédiffusion de France) im Oktober 2016 richtete. Towercast und TDF (als ehemaliges staatliches Unternehmen) bieten beide digitale terrestische Fernsehdienste (“DTT“) in Frank­reich an, während Itas ebenfalls in diesem Be­reich tätig ist. In seiner Beschwerde machte Tower­cast geltend, dass die Übernahme von Itas einen Missbrauch einer markt­be­herr­schen­den Stellung durch TDF darstelle, der nach Art. 102 AEUV verboten sei. TDF sei auf dem relevanten Markt als beherrschend anzusehen, wäh­rend die Übernahme von Itas diese Markt­po­sition erheblich verstärke und somit den Wett­bewerb auf den vor- und nachgelagerten B2B-Märkten für DTT-Rundfunk behin­de­re.

Zunächst übermittelte die französische Wettbewerbsbehörde im Juni 2018 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an TDF. Im Januar 2020 folgte sie dann jedoch den von TDF vorgebrachten rechtlichen Argumenten und entschied, dass sie die Beschwerde nicht weiterverfolgen werde, da die Einführung des EU-Fusionskontrollsystems im Jahr 19893 die Anwendung von Art. 102 AEUV in solchen Fällen ausschließe.4

Towercast focht die Entscheidung der na­ti­o­na­len Wettbewerbsbehörde jedoch vor dem zu­stän­digen französischen Berufungsgericht mit dem Argument an, dass Art. 102 AEUV pri­märes EU-Recht mit unmittelbarer Wirkung sei, das nicht durch die FKVO als sekundäres Recht außer Kraft gesetzt werden könne. Gleichzeitig wies Towercast darauf hin, dass die FKVO nur anwendbar sei, wenn die Schwellenwerte er­reicht werden oder wenn die Mitgliedstaaten eine Überprüfung durch die Kommission gemäß Art. 22 FKVO beantragen, was beides nicht der Fall war.

Wie von Generalanwältin Kokott empfohlen, ist der EuGH nun dem Ansatz von Towercast ge­folgt: Die FKVO führte zwar eine ex ante (vorherige) Kontrolle für Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung ein (das heißt: bei Überschreiten der Umsatzschwellen oder bei Verweisung), schließe aber eine ex post (nachträgliche) Kontrolle unterhalb dieser Schwellen auf nationaler Ebene nicht aus. Daraus folgt, dass auch ein fusions­kon­troll­recht­lich als “Zusammenschluss” qualifizierter Vor­gang, der die Schwellenwerte für eine vor­he­rige Kontrolle nicht erreicht, “dem Art. 102 AEUV unterliegen kann, wenn die in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen für das Vorliegen eines Missbrauchs einer beherr­schen­den Stellung erfüllt sind”.

Details der Anwendung

Für einen Missbrauch durch einen Zusam­men­schluss im Hinblick auf die Wettbewerbsstruktur auf einem “nationalen” (oder EU-weiten) Markt reicht es laut EuGH nicht schon aus, dass die Stellung eines Unternehmens (nur) gestärkt wird, sondern der erreichte Grad der Markt­be­herr­schung muss den Wettbewerb insoweit er­heb­lich behindern, “dass nur noch Un­ter­neh­men auf dem Markt verbleiben, deren Verhalten von dem marktbeherrschenden Unternehmen ab­­hängt.” Betroffene Unternehmen und M&A-Berater sollten daher das Kästchen “Miss­brauch einer marktbeherrschenden Stellung” mit der gebotenen Vorsicht ankreuzen, wenn der Erwerber möglicherweise bereits eine markt­beherrschende Stellung auf einem natio­na­len oder sogar EU-weiten Markt innehat, ins­be­sondere wenn nach der Transaktion kein gleich­wertiger Wettbewerber verbleibt oder Ab­hängigkeiten vom Erwerber auf demselben oder einem nahe gelegenen Markt bestehen.

  • Kontrollkästchen “Art. 22-Leitfaden”

Der Ansatz der Kommission

In ihrem Art. 22-Leitfaden5 beabsichtigte die Kommission, eine Durchsetzungslücke für Zusammenschlüsse zu schließen, die aufgrund relativ geringer Umsätze der Zielunternehmen die EU- oder nationalen Fusionskontroll­schwel­len nicht erreichen, aber gleichzeitig ein hohes Wettbewerbspotenzial aufgrund von Schlüssel­technologien oder -anlagen in sich bergen.

Im Allgemeinen können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 22 FKVO bei der Kommission die Prüfung eines Zusammenschlusses beantra­gen, der nicht nur den Handel zwischen Mit­glied­staaten (d.h. zumindest im gesamten Ge­biet eines Mitgliedstaats) beeinträchtigt, son­dern nach einer vorläufigen Analyse auch den Wett­bewerb innerhalb des antrag­stel­len­den Mitgliedstaats erheblich zu beeinträchtigen droht. Ursprünglich sollte die Regelung 1989 den Mitgliedstaaten, die nicht über ein natio­na­les Fusionskontrollsystem verfügen, die Mög­lich­keit geben, Fälle an die Kommission zu rich­ten. Doch dabei blieb es nicht, und im Jahr 2004 wurde Art. 22 FKVO weiter angepasst. Neu ist nun, dass die Kommission Art. 22 FKVO dahin­ge­hend auslegt, dass er den Mitgliedstaaten er­laubt und sie ermutigt, auch Fälle unterhalb der nationalen Schwellenwerte an die Kommission zu verweisen. Dieser Ansatz wurde bereits im Juli 2022 vom Gericht6 bestätigt, während ein Berufungsverfahren vor dem EuGH derzeit noch anhängig ist.

Kommentar

Mit Towercast hat der EuGH den Mitgliedstaaten ermöglicht, das zu tun, was die Kommission bereits mit ihrem Art. 22-Leitfaden erreichen wollte: die Einführung eines Über­prü­fungsmechanismus für kritische Fälle “unter dem Radar”. Während die Kommission nach Art. 22 FKVO formell immer noch auf einen Antrag des jeweiligen Mitgliedstaates ange­wie­sen ist, um nicht anmeldepflichtige Zu­sam­men­schlüsse zu prüfen, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch die Kommission und/oder die nationalen Wettbewerbsbehörden einen Fall aufgreifen werden, der sich auf Art. 102 AEUV stützt, da “ein Missbrauch in wel­cher Form auch immer schlichtweg verboten ist“. Gleichzeitig hat die Kommission bereits einen wirksamen Screening-Mechanismus für “Tiefflieger” mit bisher insgesamt 40 Fällen ent­wickelt, darunter Fälle, die von fusionierenden Unternehmen, nationalen Wettbewerbsbehör­den oder Dritten (wie im Fall Towercast) gemeldet wurden, sowie Fälle, die durch das aktive Marktscreening der Kommission aufgedeckt wurden.

Diese Veröffentlichung wurde ausschließlich zu Informationszwecken erstellt. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und stellt keine Rechtsberatung dar. Jegliche Haftung im Zusammenhang mit der Nutzung der Informationen sowie ihrer Richtigkeit wird ausgeschlossen.

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Quellen

  1. Siehe Commeo Newsletter vom 30/04/2021.
  2. EuGH, Entscheidung vom 16. März 2023, Rechtssache C-449/21 – Towercast SASU / Autorité de la concurrence / Ministre chargé de l’économie (“Towercast”).
  3. Verordnung Nr. 4064 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüs­sen, aufgehoben durch die Verordnung Nr. 139/2004 vom 20. Januar 2004 (EUMR).
  4. Wie vom EuGH entschieden, Entscheidung vom 21. Februar 1973, Rechtssache 6/72 – Europemballage und Continental Can/Kommission.
  5. Mitteilung der Kommission vom 26/03/2021, Leitlinien für die Anwendung des Verweisungsverfahrens nach Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung auf bestimmte Gruppen von Fällen (2021/C 113/01) (“Art. 22-Leitfaden“).
  6. Europäisches Gericht, Entscheidung vom 13. Juli 2022, Rechtssache T-277/21 – Illumina gegen Kommission.

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