Im Zusammenhang mit M&A-Transaktionen haben sich Unternehmen und ihre Berater in der Vergangenheit auf einen scheinbaren “sicheren Hafen” verlassen und das Kästchen “Fusionskontrolle” auf ihrer Liste angekreuzt, wenn die Schwellenwerte der EU- und der nationalen Fusionskontrolle durch einen geplanten Zusammenschluss nicht überschritten wurden. Nach 2021 haben sie möglicherweise bereits das Kästchen “Art. 22-Leitfaden”1 der Liste hinzugefügt, da die Europäische Kommission (“Kommission”) das Verweisungssystem nach Art. 22 EU-Fusionskontrollverordnung (“FKVO”) nun so auslegt, dass die Mitgliedstaaten die Kommission um die Prüfung von Zusammenschlüssen ersuchen können, auch wenn diese eigentlich unterhalb der Fusionskontrollschwellen “unter dem Radar” fliegen. Leider müssen die Berater im Jahr 2023 ihre Liste erneut aktualisieren, indem sie ein neues Kästchen “Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung” hinzufügen: Der Gerichtshof der Europäischen Union (“EuGH”) hat in der Rechtssache Towercast2 entschieden, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden (“NWB”) der Mitgliedstaaten nach Art. 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (“AEUV”) Zusammenschlüsse wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch diesen Zusammenschluss rückwirkend prüfen können, auch wenn ein solcher Zusammenschluss nicht nach den nationalen oder EU-Fusionskontrollvorschriften anmeldepflichtig war und kein Mitgliedstaat eine Prüfung nach Art. 22 FKVO beantragt hat.
Entscheidung des EuGH
Das Verfahren vor dem EuGH wurde im November 2017 durch eine Beschwerde von Towercast bei der französischen Wettbewerbsbehörde eingeleitet, die sich gegen die Übernahme des Zielunternehmens Itas durch TDF (Télédiffusion de France) im Oktober 2016 richtete. Towercast und TDF (als ehemaliges staatliches Unternehmen) bieten beide digitale terrestische Fernsehdienste (“DTT“) in Frankreich an, während Itas ebenfalls in diesem Bereich tätig ist. In seiner Beschwerde machte Towercast geltend, dass die Übernahme von Itas einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch TDF darstelle, der nach Art. 102 AEUV verboten sei. TDF sei auf dem relevanten Markt als beherrschend anzusehen, während die Übernahme von Itas diese Marktposition erheblich verstärke und somit den Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten B2B-Märkten für DTT-Rundfunk behindere.
Zunächst übermittelte die französische Wettbewerbsbehörde im Juni 2018 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an TDF. Im Januar 2020 folgte sie dann jedoch den von TDF vorgebrachten rechtlichen Argumenten und entschied, dass sie die Beschwerde nicht weiterverfolgen werde, da die Einführung des EU-Fusionskontrollsystems im Jahr 19893 die Anwendung von Art. 102 AEUV in solchen Fällen ausschließe.4
Towercast focht die Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde jedoch vor dem zuständigen französischen Berufungsgericht mit dem Argument an, dass Art. 102 AEUV primäres EU-Recht mit unmittelbarer Wirkung sei, das nicht durch die FKVO als sekundäres Recht außer Kraft gesetzt werden könne. Gleichzeitig wies Towercast darauf hin, dass die FKVO nur anwendbar sei, wenn die Schwellenwerte erreicht werden oder wenn die Mitgliedstaaten eine Überprüfung durch die Kommission gemäß Art. 22 FKVO beantragen, was beides nicht der Fall war.
Wie von Generalanwältin Kokott empfohlen, ist der EuGH nun dem Ansatz von Towercast gefolgt: Die FKVO führte zwar eine ex ante (vorherige) Kontrolle für Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung ein (das heißt: bei Überschreiten der Umsatzschwellen oder bei Verweisung), schließe aber eine ex post (nachträgliche) Kontrolle unterhalb dieser Schwellen auf nationaler Ebene nicht aus. Daraus folgt, dass auch ein fusionskontrollrechtlich als “Zusammenschluss” qualifizierter Vorgang, der die Schwellenwerte für eine vorherige Kontrolle nicht erreicht, “dem Art. 102 AEUV unterliegen kann, wenn die in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen für das Vorliegen eines Missbrauchs einer beherrschenden Stellung erfüllt sind”.
Details der Anwendung
Für einen Missbrauch durch einen Zusammenschluss im Hinblick auf die Wettbewerbsstruktur auf einem “nationalen” (oder EU-weiten) Markt reicht es laut EuGH nicht schon aus, dass die Stellung eines Unternehmens (nur) gestärkt wird, sondern der erreichte Grad der Marktbeherrschung muss den Wettbewerb insoweit erheblich behindern, “dass nur noch Unternehmen auf dem Markt verbleiben, deren Verhalten von dem marktbeherrschenden Unternehmen abhängt.” Betroffene Unternehmen und M&A-Berater sollten daher das Kästchen “Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung” mit der gebotenen Vorsicht ankreuzen, wenn der Erwerber möglicherweise bereits eine marktbeherrschende Stellung auf einem nationalen oder sogar EU-weiten Markt innehat, insbesondere wenn nach der Transaktion kein gleichwertiger Wettbewerber verbleibt oder Abhängigkeiten vom Erwerber auf demselben oder einem nahe gelegenen Markt bestehen.
Der Ansatz der Kommission
In ihrem Art. 22-Leitfaden5 beabsichtigte die Kommission, eine Durchsetzungslücke für Zusammenschlüsse zu schließen, die aufgrund relativ geringer Umsätze der Zielunternehmen die EU- oder nationalen Fusionskontrollschwellen nicht erreichen, aber gleichzeitig ein hohes Wettbewerbspotenzial aufgrund von Schlüsseltechnologien oder -anlagen in sich bergen.
Im Allgemeinen können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 22 FKVO bei der Kommission die Prüfung eines Zusammenschlusses beantragen, der nicht nur den Handel zwischen Mitgliedstaaten (d.h. zumindest im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaats) beeinträchtigt, sondern nach einer vorläufigen Analyse auch den Wettbewerb innerhalb des antragstellenden Mitgliedstaats erheblich zu beeinträchtigen droht. Ursprünglich sollte die Regelung 1989 den Mitgliedstaaten, die nicht über ein nationales Fusionskontrollsystem verfügen, die Möglichkeit geben, Fälle an die Kommission zu richten. Doch dabei blieb es nicht, und im Jahr 2004 wurde Art. 22 FKVO weiter angepasst. Neu ist nun, dass die Kommission Art. 22 FKVO dahingehend auslegt, dass er den Mitgliedstaaten erlaubt und sie ermutigt, auch Fälle unterhalb der nationalen Schwellenwerte an die Kommission zu verweisen. Dieser Ansatz wurde bereits im Juli 2022 vom Gericht6 bestätigt, während ein Berufungsverfahren vor dem EuGH derzeit noch anhängig ist.
Kommentar
Mit Towercast hat der EuGH den Mitgliedstaaten ermöglicht, das zu tun, was die Kommission bereits mit ihrem Art. 22-Leitfaden erreichen wollte: die Einführung eines Überprüfungsmechanismus für kritische Fälle “unter dem Radar”. Während die Kommission nach Art. 22 FKVO formell immer noch auf einen Antrag des jeweiligen Mitgliedstaates angewiesen ist, um nicht anmeldepflichtige Zusammenschlüsse zu prüfen, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch die Kommission und/oder die nationalen Wettbewerbsbehörden einen Fall aufgreifen werden, der sich auf Art. 102 AEUV stützt, da “ein Missbrauch in welcher Form auch immer schlichtweg verboten ist“. Gleichzeitig hat die Kommission bereits einen wirksamen Screening-Mechanismus für “Tiefflieger” mit bisher insgesamt 40 Fällen entwickelt, darunter Fälle, die von fusionierenden Unternehmen, nationalen Wettbewerbsbehörden oder Dritten (wie im Fall Towercast) gemeldet wurden, sowie Fälle, die durch das aktive Marktscreening der Kommission aufgedeckt wurden.
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