Der EuGH beginnt das neue Jahr in seinem Unilever Urteil1 mit klaren Ausführungen zu den Voraussetzungen der Zurechenbarkeit des Verhaltens von Vertriebshändlern an den Hersteller im Rahmen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV. Zudem bestätigt der Gerichtshof seine bisherige Intel-Rechtsprechung2 auch im Rahmen der Beurteilung von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen und gibt den Wettbewerbsbehörden wertvolle Hinweise zur Anwendung des sog. as efficient competitor test mit auf dem Weg.
Unilever Italia Mkt. Operations Srl („Unilever“) vertreibt in Italien mit Hilfe eines Netzes von rund 150 unabhängigen Vertriebshändlern abgepacktes Speiseeis „to go“ in bestimmten Verkaufsstellen wie Kiosken, Schwimmbädern oder Bars. Die italienische Wettbewerbsbehörde Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato („AGCM“) verhängte gegen Unilever im Oktober 2017 wegen eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV ein Bußgeld in Höhe von rund EUR 60 Mio. und warf dem Unternehmen vor, durch Ausschließlichkeitsklauseln, Rabatte und Provisionen eine wettbewerbswidrige Verdrängungsstrategie verfolgt zu haben. Unilever und ihre Vertriebshändler, die die betreffenden Klauseln an die Verkaufsstellen weitergereicht hatten, seien nach Ansicht der AGCM als wirtschaftliche Einheit zu betrachten, sodass das Verhalten der Händler Unilever zuzurechnen sei.
Unilever verteidigte sich im Verfahren vor der AGCM mit Hinweis auf den sog. as efficient competitor test („AEC Test“). Eine wirtschaftliche Analyse zeige, dass die untersuchten Praktiken nicht geeignet gewesen seien, einen ebenso leistungsfähigen Wettbewerber wie Unilever vom Markt zu verdrängen. Die AGCM lehnte die Prüfung des AEC Tests mit der Begründung ab, dass die Verwendung einer Ausschließlichkeitsklausel per se für einen Missbrauch nach Art. 102 AEUV ausreiche. Im Rechtsmittelverfahren legte das italienische Berufungsgericht dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens zwei Fragen vor:
Der EuGH stellt zunächst klar, dass eine vertragliche Koordinierung (z.B. eine Vertriebsvereinbarung) grundsätzlich nicht Teil einer einseitigen Handlungsweise sei, da ihre Umsetzung zumindest die stillschweigende Zustimmung aller Parteien impliziere. Sie sei daher an Art. 101 AEUV zu messen. Dies schließe jedoch nicht aus, dass dem marktbeherrschenden Unternehmen das Verhalten seiner Vertriebshändler im Rahmen von Art. 102 AEUV zugerechnet werden könne.
Für die Begründung einer solchen Zurechnung zieht der EuGH indes – entgegen der Vorlagefrage der AGCM – gerade nicht das Konzept der wirtschaftlichen Einheit heran. Als wirtschaftliche Einheit werden, vor allem im Bußgeld- und Kartellschadensersatzrecht, rechtlich selbstständige Unternehmen kartellrechtlich zu einem einzigen Unternehmen zusammengefasst, wenn die Rechtssubjekte durch wirtschaftliche, organisatorische und rechtliche Beziehungen derart miteinander verbunden sind, dass sie zur selben wirtschaftlichen Einheit gehören.3
Stattdessen wählt der EuGH einen direkteren Weg: Eine Zurechnung des Verhaltens der Vertriebshändler an den Hersteller komme dann in Betracht, wenn das Händlerverhalten nach den spezifischen Weisungen des marktbeherrschenden Herstellers und somit im Rahmen der Umsetzung einer vom Hersteller einseitig beschlossenen Politik erfolgt ist, an die sich die Händler halten mussten. Die Händler seien dann „bloßes Instrument“ und der Hersteller der Urheber des wettbewerbswidrigen Verhaltens. Dies gelte vor allem bei den hier genutzten Standardverträgen mit Ausschließlichkeitsklauseln, die die Vertriebshändler wie von Unilever vorgegeben von den Verkaufsstätten unterzeichnen lassen mussten. In diesem Fall sei kein Nachweis einer wirtschaftlichen Einheit oder einer sonstigen hierarchischen Verbindung der Unternehmen erforderlich.
In Beantwortung der zweiten Vorlagefrage bestätigt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung in Sachen Intel: Für einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV sei die Eignung zur wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen grundsätzlich ausreichend. Hierbei sei die Wettbewerbsbehörde allerdings verpflichtet, das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber zu prüfen; das gelte auch für reine Ausschließlichkeitsklauseln. Diese seien, auch wenn sie aufgrund ihrer Natur berechtigte Wettbewerbsbedenken hervorrufen, nicht automatisch geeignet, Wettbewerber zu verdrängen.
Der EuGH stellt weiter klar, dass eine Wettbewerbsbehörde nicht verpflichtet sei, auf den AEC Test zurückzugreifen, da der Test nur eine von mehreren Methoden zur Beurteilung von Verdrängungswirkungen sei – die Anwendung des AEC Test sei also fakultativ. Wenn ein Unternehmen aber im Verfahren den AEC Test zu seiner Entlastung vorlegt, müsse die Behörde dessen Beweiswert prüfen und ihn beim Nachweis der Wettbewerbsbeschränkung berücksichtigen.
Richtigerweise stellt der EuGH für den Nachweis einer Behinderung, die mittelbar über Vertriebspartner verwirklicht wird, nicht auf die Zurechnung über eine „ausufernde“ wirtschaftliche Einheit von selbständigen Unternehmen ab. Die gewählte Lösung der Zurechnung, die der strafrechtlichen Figur der mittelbaren Täterschaft ähnelt, überzeugt und entspricht der ständigen Beratungspraxis im Missbrauchsrecht.
Der EuGH bestätigt seine bisherige Intel-Rechtsprechung und zeigt auf, dass die Auswirkungsprüfung auch für reine Ausschließlichkeitsklauseln erforderlich ist. Damit dürfte endgültig feststehen, dass die per se Annahme eines missbräuchlichen Verhaltens dann ausgeschlossen ist, wenn das marktbeherrschende Unternehmen einen Verteidigungsansatz vorlegt. Zieht man einen Vergleich zum Zivilprozessrecht, haben Ausschließlichkeitsklauseln (oder wie im Falle Intel: Ausschließlichkeitsrabatte), die von einem marktbeherrschenden Unternehmen ausgesprochen werden, untechnisch gesprochen die Wirkung eines „Anscheinsbeweis“ bezüglich missbräuchlicher Verdrängungswirkung. Durch Vorlage eines Verteidigungsansatzes, wie z.B. des AEC Tests, kann das marktbeherrschende Unternehmen diesen Anscheinsbeweis „erschüttern“, woraufhin die Behörde dann den „Vollbeweis“ der Eignung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkung anhand der bekannten, durch die Rechtsprechung entwickelten Kriterien4 erbringen muss.
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