Am 26. Januar 2024 hat die Europäische Kommission („Kommission“) einen aktualisierten Bericht über die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts auf EU- und nationaler Ebene im Pharmasektor zwischen 2018 und 2022 („Bericht 2024“) veröffentlicht.1 Der Bericht 2024 gibt nicht nur einen Überblick über die jüngsten kartellrechtlichen Entscheidungen und Untersuchungen, sondern auch über die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf neue Fragenstellungen im Pharmasektor. Pharmaunternehmen müssen daher ihre Compliance-Regeln entsprechend anpassen und dabei die indirekten Hinweise des Berichts 2024 berücksichtigen, um Sanktionen zu vermeiden. Nebenbei sei bemerkt: Der Bericht 2024 gibt einen anschaulichen Überblick über die Besonderheiten der Pharmaindustrie und damit über den Rechtsrahmen, in dem eine wettbewerbsrechtliche Beurteilung stattfinden muss.
In keinem anderen Sektor ist die Bedeutung des Kartellrechts so offensichtlich wie im stark regulierten Pharmasektor: Seit der Sektoruntersuchung der Kommission im Jahr 20092 ist es ein klares politisches Ziel, den Zugang der Patienten zu erschwinglichen und innovativen Arzneimitteln zu sichern und die Gesundheitssysteme auch durch die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts vor übermäßigen Kosten zu schützen.
Sowohl die Kommission als auch die nationalen Wettbewerbsbehörden setzen ihren Schwerpunkt weiterhin auf diesen Sektor und beobachten die Geschäftspraktiken auf den Märkten für Arzneimittel, Gesundheitsdienstleistungen und Medizinprodukte sehr genau. Während sich die Durchsetzungsmaßnahmen weiterhin auf Verhaltensweisen konzentrieren, die den Markteintritt von Generika nach dem Verlust der Exklusivität durch den Originalhersteller behindern oder verzögern, werden zunehmend insbesondere auf nationaler Ebene auch neuartige Praktiken – dazu zählen das Verlangen überhöhter Preise für generische Nischenprodukte oder von Verdrängungspreisen, Verunglimpfungskampagnen zum Nachteil von Wettbewerbern, die Generika oder Biosimilars herstellen, oder der Missbrauch des Patentsystems – untersucht und mit Geldbußen belegt. Die Kommission nimmt auch ihre Fusionskontrollentscheidungen in diesem Sektor unter die Lupe. Von den fünf problematischen Fusionskontrollverfahren im Berichtszeitraum konnten vier erst freigegeben werden, nachdem die beteiligten Unternehmen Zusagen angeboten hatten, die geeignet waren, die Bedenken der Kommission hinsichtlich Preiserhöhungen, unzureichendem Zugang zu innovativen Arzneimitteln und Innovationsbeschränkungen auszuräumen.
Der Bericht 2024 ist ein Update des Berichts, den die Kommission dem Europäischen Parlament im Jahr 2019 vorgelegt hat, um über die Durchsetzung in diesem Sektor im Anschluss an ihre Sektoruntersuchung von 2009 zu informieren („Bericht 2019“).3 Während sich der Bericht 2019 auf die Entwicklungen im Zeitraum von 2009 bis 2017 bezog, umfasst der Bericht 2024 nun die Jahre 2018 bis 2022.
Der Bericht 2024 nimmt erneut eine Gesamtbetrachtung vor und skizziert nicht nur die Rechtsprechung und Entscheidungspraxis zu Wettbewerbsverstößen, sondern befasst sich auch mit dem regulatorischen Rahmen, dem Wettbewerbsrecht während der Covid 19-Pandemie und dem Vorschlag für eine Reform der EU-Arzneimittelvorschriften. Dieser Newsletter konzentriert sich auf die im Bericht 2024 hervorgehobenen Durchsetzungsmaßnahmen der europäischen Wettbewerbsbehörden.
Zwischen 2018 und 2022 haben die Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden 26 kartellrechtliche Entscheidungen gegen Pharmaunternehmen erlassen, in denen sie Geldbußen von insgesamt mehr als EUR 780 Mio. verhängten oder verbindliche Zusagen zur Abstellung wettbewerbswidrigen Verhaltens akzeptierten.4 Darüber hinaus untersuchten die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden mehr als 70 weitere Fälle, von denen 40 zu keiner Interventionsentscheidung führten und 30 noch anhängig sind.
Die untersuchten wettbewerbswidrigen Praktiken umfassten (i) den Missbrauch von Patentverfahren und die missbräuchliche Prozessführung, um die Patentexklusivität zu verlängern; (ii) Pay-for-Delay-Vereinbarungen; (iii) die Verunglimpfung oder das „Schlechtreden“ von Produkten eines Wettbewerbers, um die Einführung von Konkurrenzprodukten zu behindern und (iv) das Verlangen unangemessen hoher Preise für patentfreie Arzneimittel.
Ein ansonsten rechtmäßiges Patentverhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens kann unter bestimmten Umständen einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV darstellen. Im Oktober 2022 kam die Kommission zu der vorläufigen Auffassung, dass Teva seine marktbeherrschende Stellung auf den Märkten für ein Medikament gegen Multiple Sklerose in mehreren Mitgliedstaaten missbraucht haben könnte, um den Markteintritt und den Wettbewerb für sein Glatirameracetat-Medikament Copaxone zu behindern.5 Eines der untersuchten, potenziell missbräuchlichen Verhaltensweisen ist der Missbrauch von Patentverfahren. Teva soll beim Europäischen Patentamt nacheinander Teilpatentanmeldungen (sog. „divisional patents“) eingereicht haben, die sich inhaltlich weitgehend überschnitten. Als Wettbewerber dagegen gerichtlich vorgehen wollten (um den Weg für den Markteintritt freizumachen), zog Teva seine Hauptpatentanmeldung zurück, ließ aber die Teilpatente anhängig. Infolgedessen seien die Wettbewerber von Teva gezwungen gewesen, im Wesentlichen ähnliche Patentansprüche von Teva mehrfach rechtlich anzufechten, so dass die Rechtsunsicherheit zugunsten von Teva künstlich verlängert und der Markteintritt von Generika oder generikaähnlichen Arzneimitteln z.B. durch einstweilige Verfügungen effektiv blockiert oder verzögert wurde.
In Ausnahmefällen, wenn eine Klage eines marktbeherrschenden Unternehmens objektiv ohne Rechtsgrundlage ist, kann auch eine „missbräuchliche Prozessführung“ einen Missbrauch der Marktbeherrschung darstellen. Die spanische Wettbewerbsbehörde nahm einen solchen Missbrauch im Fall des Pharmaunternehmens Merck Sharp & Dohme GmbH („MSD“) an.6 MSD genoss von 2002 bis 2018 Patentschutz für den ersten vaginalen Verhütungsring. Als der Wettbewerber Insud Pharma 2017 einen alternativen, patentgeschützten Vaginalring (namens Ornibel) auf den Markt brachte, reichte MSD vor einem spanischen Gericht Klage wegen Patentverletzung ein und beantragte u.a. einstweiligen Rechtsschutz. Das Gericht entschied zugunsten von MSD und stoppte die Herstellung und den Verkauf des Ornibel-Rings in Spanien. Die spanische Wettbewerbsbehörde vertrat die Auffassung, dass MSD eine Strategie zur Irreführung des Gerichts verfolgte, um den Markteintritt eines Wettbewerbers zu behindern, indem es relevante sachliche und technische Informationen zurückhielt und dem Gericht irreführende Informationen lieferte. Die spanische Wettbewerbsbehörde sah darin den Versuch von MSD, einen wirksamen Wettbewerb durch rechtliche Maßnahmen zu verhindern, und nicht, sein Patent zu schützen und verhängte eine Geldbuße von rund EUR 39 Mio.
Pay-for-Delay-Vereinbarungen stehen weiterhin im Fokus der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden. Pay-for-delay-Vereinbarungen zwischen Originalpräparate- und Generikaherstellern sind Vereinbarungen, mit denen der Generikahersteller sich verpflichtet seinen unabhängigen Markteintritt einzuschränken oder zu verzögern und im Gegenzug vom Originalpräparatehersteller erhebliche Vorteile erhält. Mit anderen Worten: Der Vorwurf geht dahin, dass der Originalpräparatehersteller einen drohenden oder laufenden Patentstreit mit einem Generikahersteller nicht gutgläubig beilegt, sondern seinen Wettbewerber dafür bezahlt, dass er für eine bestimmte Zeit vom Markt fernbleibt. Solche Vereinbarungen können sowohl gegen Art. 101 AEUV als auch Art. 102 AEUV verstoßen.
Im Januar 2020 erging auf Vorlage des britischen Competition Appeal Tribunal die erste EuGH-Entscheidung in Bezug auf Pay-for-Delay-Vereinbarungen.7 Der EuGH kam zu dem Schluss, dass Pay-for-Delay-Vereinbarungen eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken, „wenn sich die vereinbarten Wertübertragungen allein durch das geschäftliche Interesse erklären lassen, das sowohl der Patentinhaber als auch [der Generikahersteller], an der Vermeidung von Leistungswettbewerb haben.”
In dem jüngsten Verfahren der Kommission im Zusammenhang mit Pay-for-Delay-Vereinbarungen, in der Rechtssache Cephalon, bestätigte das EuG die Bußgeldentscheidung der Kommission vom November 2020 gegen Teva.8 Der Rechtsstreit über den Servier-Beschluss der Kommission ist noch vor dem EuGH anhängig. Hier hatte die Kommission nicht nur Geldbußen gegen die Unternehmen wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erhoben, sondern stellte auch fest, dass die Praktiken von Servier einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 102 AEUV darstellen.9
In den letzten Jahren haben insbesondere die nationalen Wettbewerbsbehörden zunehmend wettbewerbswidrige Verunglimpfungspraktiken untersucht. Bereits 2018 entschied der EuGH, dass Unternehmen nicht kolludieren dürfen, um im Kontext wissenschaftlicher Unsicherheit irreführende Informationen über Nebenwirkungen zu verbreiten, die sich aus der off-label-Verwendung eines Arzneimittels ergeben, um den Wettbewerbsdruck auf ein anderes Produkt zu verringern.10 Dies stelle eine bezweckte Beschränkung i.S.v. Art. 101 AEUV dar.
Die französische Wettbewerbsbehörde, die insoweit eine Vorreiterrolle spielt, bebußte bereits mehrere Originalpräparatehersteller wegen Verunglimpfungspraktiken.11 Im Jahr 2020 verhängte die französische Wettbewerbsbehörde gegen Novartis, Roche und Genentech Geldbußen in Höhe von insgesamt EUR 444 Mio. wegen Verunglimpfungspraktiken. Sie stellte in diesem Fall jedoch keine wettbewerbswidrige Vereinbarung fest, sondern den Missbrauch einer kollektiven marktbeherrschenden Stellung der drei Unternehmen, die darauf abzielte, sich diese Stellung und den Preis von Lucentis durch Einschränkung der off-label-Verwendung von Avastin zu sichern. Novartis habe Avastin dadurch verunglimpft, dass sie die mit der off-label-Verwendung von Avastin verbundenen Risiken im Vergleich zu Lucentis für den gleichen Zweck ungerechtfertigt übertrieben dargestellt hat.12 Die Cour d‘appel hob die Entscheidung der französischen Wettbewerbsbehörde auf und entschied, dass den drei Unternehmen keine wettbewerbswidrige Verhaltensweise nachgewiesen werden konnte.13 Die Revision gegen dieses Urteil ist derzeit bei der Cour de Cassation anhängig.14 Die belgische Wettbewerbsbehörde folgte der gleichen Argumentation wie die französische Wettbewerbsbehörde und verhängte gegen Novartis eine Geldbuße in Höhe von EUR 2,78 Mio. wegen Missbrauchs ihrer gemeinsamen marktbeherrschenden Stellung mit der Roche-Gruppe.
Auch in der bereits erwähnten Untersuchung gegen Teva in Bezug auf das Arzneimittel Copaxone äußerte die Kommission Bedenken wegen einer Verunglimpfungskampagne, mit der sich Teva an Angehörige der Gesundheitsberufe richtete und Zweifel an der Sicherheit und Wirksamkeit eines mit Copaxone konkurrierenden Arzneimittels verbreitete. Auch die Kommission untersucht die Verunglimpfungsvorwürfe unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV.
Marktbeherrschende Pharmaunternehmen müssen sicherstellen, dass die von ihnen gewährten Rabatte keinen Missbrauch ihrer marktbeherrschenden Stellung darstellen. Insbesondere dürfen Pharmaunternehmen mit ihren Rabatten nicht Wettbewerbern das Wachstum erschweren oder diese sogar vom Markt drängen. Im Jahr 2019 leitete die niederländische Wettbewerbsbehörde eine Untersuchung wegen der von AbbVie gegenüber Krankenhäusern gewährten Rabatte für das Arzneimittel Humira ein. Das Patent auf dieses Arzneimittel war ausgelaufen, und andere Arzneimittelhersteller produzierten und vermarkteten Biosimilars von Humira. Die Rabattregelung von AbbVie sah vor, dass nur Krankenhäuser, die Humira weiterhin für alle ihre Patienten verwenden und daher nicht auf ein Biosimilar umsteigen würden, den Rabatt erhielten. Die niederländische Wettbewerbsbehörde kam zu dem Schluss, dass AbbVie als ehemaliger Patentinhaber versucht hatte, den Markteintritt von Biosimilar-Herstellern zu erschweren.15 Sie stellte ihre Untersuchung erst ein, nachdem AbbVie entsprechende Zusagen gemacht hatte.
Die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission haben zudem gegen mehrere Pharmaunternehmen ermittelt, die ihre marktbeherrschende Stellung durch die Forderung überhöhter Preise ausnutzten.
Im Aspen-Fall leitete die Kommission ihre erste Untersuchung wegen überhöhter Preise ein. Damit folgte sie der italienischen Behörde, die Aspen bereits 2006 wegen überhöhter Preise für dieselben in Italien verkauften Arzneimittel eine Geldbuße auferlegt hatte. Das Verfahren der Kommission wurde eingestellt, nachdem sich Aspen umfassend verpflichtet hatte, die Preise über einen Zeitraum von 10 Jahren signifikant zu senken. In Anlehnung an die in Sachen United Brands aufgestellten Kriterien stellte die Kommission fest, dass sich die hohen Gewinne von Aspen beim Verkauf seiner Krebsmedikamente – im Vergleich zu den Gewinnen ähnlicher Pharmaunternehmen – nicht erklären ließen. Insbesondere dienten sie nicht der Entlohnung für signifikante Innovationen oder einer kommerziellen Risikobereitschaft.
Schließlich sind die nationalen Wettbewerbsbehörden gegen verschiedene andere wettbewerbswidrige Verhaltensweisen vorgegangen, die von vertikalen Preisbindungen über Absprachen zwischen Apotheken und Pharmaunternehmen bis hin zum Impfstoffkartell zwischen zwei belgischen Arzneimittelgroßhändlern reichen.
Der Bericht 2024 zeigt: Der Pharmasektor steht weiterhin unter strenger Beobachtung durch die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden. Diese sind bestrebt, das EU-Kartellrecht einschließlich die Fusionskontrollvorschriften anzuwenden, um den Patienten einen erschwinglichen und einfachen Zugang zu Arzneimitteln zu gewährleisten und gleichzeitig die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten und damit die Allgemeinheit vor übermäßigen Kosten zu schützen.
Einige der im Bericht 2024 dargelegten Entscheidungen befassen sich mit neuartigen Fallkonstellationen, die in den meisten Standard-Compliance-Programmen von Pharmaunternehmen noch keinen Niederschlag gefunden haben und spätestens jetzt entsprechend angepasst werden müssen. Pharmaunternehmen sollten auch darauf achten, dass es keinen numerus clausus für rechtswidrige Verhaltensweisen gibt. Dies betrifft insbesondere den Missbrauch von Marktbeherrschung, bei denen die Entscheidungspraxis im ständigen Fluss ist.
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