Mit der Entscheidung vom 3. September 20241 stellt der EuGH klar, dass die EU-Kommission keinen Verweisungsantrag nach Art. 22 FKVO2 annehmen kann, wenn die nationalen Anmeldeschwellen des verweisenden Mitgliedsstaates nicht erfüllt sind und somit keine initiale Zuständigkeit zur Prüfung eines Zusammenschlusses bestand. Der EuGH hebt damit das vorhergehende gegenteilige Urteil des Europäischen Gerichts3 sowie die zugrundeliegenden Beschlüsse der EU-Kommission zur Prüfung des Zusammenschlusses Illumina/Grail auf. Auch nach dieser weitreichenden Entscheidung, mit der die Kompetenzen der Behörde deutlich eingeschränkt werden, bleiben der EU-Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden mit sog. Call-in Befugnissen und Art. 102 AEUV weiterhin Optionen, kritische Zusammenschlüsse auch unterhalb der Fusionskontrollschwellen zu prüfen.
Im April 2021 akzeptierte die EU-Kommission einen Verweisungsbeschluss der französischen Wettbewerbsbehörde4 im Zusammenhang mit dem geplanten Erwerb von Grail, einem Unternehmen, das Bluttest zur Krebsfrüherkennung entwickelt, durch das Gentechnikunternehmen Illumina. Der Zusammenschluss erfüllte weder die nationalen Anmeldeschwellen noch die der EU-Fusionskontrolle. Dennoch entschied sich die EU-Kommission für ein Aufgreifen der Transaktion und bestätigte ihre Zuständigkeit aufgrund der Verweisungsnorm des Art. 22 FKVO.5 Illumina und Grail legten hiergegen Beschwerde ein und vollzogen den Zusammenschluss (vorzeitig) noch während des laufenden Prüfverfahrens. Nachdem die EU-Kommission die Transaktion im September 2022 letztlich untersagte, erfolgte kurze Zeit später die Verhängung von Rekordbußgeldern gegen beide Unternehmen6 und die Aufforderung der EU-Kommission, den Zusammenschluss zu entflechten. Vor diesem Hintergrund (und des Ausgangs eines parallel in den USA geführten Rechtsstreits) entschied sich Illumina im Dezember 2023, die Mehrheit der Anteile an Grail wieder zu veräußern. Das Europäische Gericht bestätigte zunächst im Juli 2022 die Kompetenz der EU-Kommission, den Fall unter Art. 22 FKVO prüfen zu dürfen, bevor Generalanwalt Emiliou dem EuGH mit seinen Schlussanträgen im März 2024 zu einer Kehrtwende riet.7
Der EuGH bestätigt nun mit einem Paukenschlag die Ansicht des Generalanwalts und hebt die vorhergehenden Entscheidungen von Gericht und EU-Kommission auf: Eine wörtliche, historische, systematische und teleologische Auslegung der FKVO ergebe, dass die EU-Kommission einen Zusammenschluss nicht prüfen kann, dem nicht nur eine europäische Dimension fehlt, sondern der auch außerhalb der Zuständigkeit der verweisenden Mitgliedsstaaten fällt, weil die nationalen Schwellenwerte nicht erreicht werden. Es bedürfe keines „Korrekturmechanismus“ durch die FKVO für die wirksame Kontrolle von Zusammenschlüssen mit erheblichen Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der EU. Alles andere würde zu einem Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen mit der FKVO verfolgten Ziele führen. Schwellenwerte dienten der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für die beteiligten Unternehmen, die leicht feststellen können müssten, ob ihr Vorhaben der Fusionskontrolle unterfällt und wenn ja, vor welcher Behörde und unter welchen verfahrensrechtlichen Regeln.
Nationalen Wettbewerbsbehörden verbleiben auch nach dem folgenreichen Urteil des EuGH andere Optionen, „unterschwellige“ Zusammenschlüsse zu prüfen: Zahlreiche Fusionskontrollregime in der EU sehen sog. „Call-in“ Befugnisse der Wettbewerbsbehörden für Zusammenschlüsse vor, die die nationalen Umsatzschwellen nicht oder nur teilweise erfüllen, wenn sie befürchten, dass der Zusammenschluss wettbewerbsrechtliche Bedenken aufwirft. Ein im Ermessen der Behörden stehendes Aufgreifen kann dabei in einigen Regimen sogar retrospektiv bis zu einem Jahr nach Vollzug der in Frage stehenden Transaktion stattfinden.
Vergleichbare Aufgreifbefugnisse gibt es derzeit u.a. in Dänemark, Irland, Schweden, Italien, Lettland und Litauen. Weitere Länder, wie die Niederlande oder Tschechien, haben die Einführung von Call-in Befugnissen bereits angekündigt. Im deutschen Wettbewerbsgesetz kommt ein Aufgreifen von Transaktionen unterhalb der Schwellenwerte des § 35 GBW nur ausnahmsweise nach einer Sektoruntersuchung in Betracht. Das Bundeskartellamt kann Unternehmen auf dem untersuchten Markt nach § 32f Abs. 2 GWB auferlegen, alle Zusammenschlüsse in den nächsten drei Jahren anzumelden, bei denen das Zielunternehmen mind. EUR 1 Mio. Umsatz in Deutschland erzielt.
Eine weitere Möglichkeit der Überprüfung von Zusammenschlüssen unterhalb der EU- bzw. nationalen Fusionskontrollschwellen hat der EuGH im März 2023 mit seiner Towercast-Entscheidung8 eröffnet: Hiernach ist bei Unternehmenskäufen eines marktbeherrschenden Erwerbers eine Überprüfung des Zusammenschlusses auch nach Vollzug unter dem Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV möglich.9
Nationale Wettbewerbsbehörden haben bereits in zwei Fällen von der Towercast-Doktrin Gebrauch gemacht: Während die belgische Behörde im Fall Proximus10 in einem der Towercast-Konstellation ähnlichen Fall einen Zusammenschluss unter dem Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV untersucht hat, hat die französische Wettbewerbsbehörde die Rechtsprechung des EuGH bemerkenswerterweise auf eine nachträgliche Untersuchung von Zusammenschlüssen nach dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV angewandt.11
Die EuGH-Entscheidung Illumina/Grail bringt einerseits die lang ersehnte Rechtssicherheit zur Reichweite des Verweisungsregimes des Art. 22 FKVO. Andererseits sind nationale Wettbewerbsbehörden und die EU-Kommission nicht machtlos, um weiterhin „Killer-Akquisitionen“ oder andere vermeintlich problematische Zusammenschlüsse aufzugreifen12: Die Bedeutung einer Prüfung nach Art. 102 AEUV bei Transaktionen marktbeherrschender Unternehmen wird nun wohl stärker in den Fokus der Behörden rücken. Auch der europäische Trend zu Call-in Befugnissen, die für Transaktionen von allen Unternehmen gelten, wird weiter fortschreiten und an Bedeutung gewinnen. Der damit einhergehenden verbleibenden Unsicherheit für Unternehmen sollte mit einer Anpassung von Klauseln zu fusionskontrollrechtlichen Risiken in M&A-Verträge begegnet werden.
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