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08.08.2022

Gun Jumping und Warehousing-Strukturen

Ein neues Urteil auf EU-Ebene wirft ein neues Licht auf die Frage, wann vorläufige Transaktionen in mehrstufigen M&A-Deals als Vollzug eines Zusammenschlusses angesehen werden können

Am 18. Mai 2022 bestätigte das Gericht der Europäischen Union („EuG“) das von der Europäischen Kommission („Kommission“) verhängte Bußgeld in Höhe von EUR 28 Mio.1 gegen den Hersteller von Bildgebungs- und optischen Produkten Canon Inc. („Canon“) wegen des „Gun Jumping“-Verstoßes beim Erwerb des japanischen Medizintechnikherstellers Toshiba Medical Systems Corporation („TMSC“).2 Die Entscheidung des EuG stellt klar, dass eine Warehousing-Struktur nicht dazu verwendet werden kann, das Vollzugsverbot gemäß der EU-Fusionskontrollverordnung („FKVO“) zu umgehen.

Hintergrund

Nach finanziellen Schwierigkeiten und zur Vermeidung eines negativen Ergebnisses für das im März 2016 endende Geschäftsjahr beschloss Toshiba, seine 100%-ige Tochtergesellschaft TMSC zu verkaufen. In seinem Angebot schlug Canon eine Transaktionsstruktur vor, nach der TMSC bis Ende März 2016 als Kapitaleinlage in den Büchern von Toshiba verbucht würde, die Kontrolle aber erst nach den erforderlichen fusionskontrollrechtlichen Freigaben erworben werden würde. Das Angebot von Canon sah eine zweistufige Transaktionsstruktur vor, die auch als „Warehousing-Struktur“ bezeichnet wird (d.h. die Zielgesellschaft wird erworben und vorübergehend von einem Zwischenkäufer gehalten, bis die entsprechenden Freigaben erteilt wurden):

1. Vorläufige Transaktion: Am 17. März 2016 erwarb (i) Canon den stimmrechtslosen Anteil von TMSC für EUR 40 und 100 stimmberechtigte Aktienoptionen für EUR 5,28 Mrd. (wobei das Stimmrecht erst nach Ausübung der Optionen ausgeübt werden konnten) und (ii) MS Holding, ein für die Transaktion gegründetes Vehikel, die restlichen 20 stimmberechtigten Aktien für EUR 800. Diese vorläufige Transaktion wurde vor der Anmeldung des Zusammenschlussvorhabens bei der Kommission vollzogen.

2. Finale Transaktion: Am 19. Dezember 2016, nachdem alle fusionskontrollrechtlichen Freigaben erteilt worden waren, übte Canon seine 100 Aktienoptionen aus, um die zugrunde liegenden stimmberechtigten Aktien zu erwerben, und TMSC erwarb von Canon die stimmrechtslosen Aktien und von MS Holding die 20 stimmberechtigten Aktien.

Bußgeldentscheidung der Kommission

Nach dem Antrag auf Zuteilung des Case Teams vom 11. März 2016 meldete Canon der Kommission am 12. August 2016 formell den Erwerb von 100 % der Anteile sowie der alleinigen Kontrolle über TMSC an (sowohl die vorläufige als auch die endgültige Transaktion waren umfasst). Die Transaktion warf keine wettbewerbsrechtlichen Bedenken auf und wurde von der Kommission genehmigt.

Parallel zum Fusionskontrollverfahren leitete die Kommission aufgrund einer anonymen Beschwerde eine Ermittlung wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Vollzugsverbot nach Art. 7 Abs. 1 FKVO und der Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 FKVO ein. Am 27. Juni 2019 verhängte die Kommission ein Bußgeld in Höhe von EUR 28 Mio. gegen Canon wegen des Verstoßes gegen diese Verpflichtungen.

Die Kommission stellte fest, dass die vorläufige und die endgültige Transaktion einen einzigen Zusammenschluss darstellten und eng miteinander verbunden waren. Die Kommission begründete dies damit, dass die vorläufige Transaktion ein notwendiger Schritt war und zumindest teilweise dazu beigetragen hat, die Kontrolle über TMSC zu erlangen, was einen direkten funktionalen Zusammenhang mit der Umsetzung des Kontrollerwerbs darstellt. Daher kam sie zu dem Schluss, dass Canon mit der Durchführung der vorläufigen Transaktion den Zusammenschluss, d.h. den Erwerb der Kontrolle über TMSC, bereits teilweise vollzogen hat, bevor er bei der Kommission angemeldet und von ihr freigegeben wurde. In ihrer Entscheidung räumte die Kommission ein, dass Canon die Kontrolle über TMSC nicht vor der Freigabe erworben hat.

Entscheidung des EuG

Das EuG wies die Klage von Canon ab und bestätigte das Bußgeld in Höhe von EUR 28 Mio. Canon machte geltend, dass die vorläufige Transaktion (d. h. die vor der Freigabe durch die Kommission vollzogene vorläufige Transaktion) keinen Kontrollerwerb darstelle und daher nicht als vorzeitiger Vollzug eines Zusammenschlusses angesehen werden könne, da ein vorzeitiger Vollzug nur dann vorliege, wenn die Kontrolle über die Zielgesellschaft erworben werde. Dem widersprach das EuG und stellte fest, dass die Kommission zu Recht argumentierte, dass die Begriffe „Zusammenschluss“ und „Vollzug eines Zusammenschlusses“ unterschiedlich sind. Während der „Vollzug eines Zusammenschlusses“ eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle voraussetzt, kann ein „Zusammenschluss“ stattfinden, sobald die Parteien Vorgänge durchführen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle beitragen, möglicherweise sogar bevor die Kontrolle erworben wird (z. B. durch vorläufige Transaktionen, die lediglich zu einer späteren Veränderung der Kontrolle „beitragen“). Das EuG stellte klar, dass Vorgänge unter den Begriff des Vollzugs eines Zusammenschlusses fallen, wenn sie ganz oder teilweise, in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zum Kontrollwechsel bei der Zielgesellschaft beitragen können.3

Folglich kam das EuG zu dem Schluss, dass die Überprüfung durch die Kommission nur dann wirksam ist, wenn sie nicht nur vor dem Kontrollerwerb, sondern uch vor dem (teilweisen) Vollzug eines Zusammenschlusses erfolgt. Der in der FKVO geforderte Vorrang der Überprüfung würde nach Ansicht des EuG untergraben, wenn es den beteiligten Unternehmen untersagt wäre, einen Zusammenschluss durch eine einzige Transaktion zu vollziehen, es ihnen aber gestattet wäre, die gleichen Ergebnisse durch aufeinanderfolgende Teiltransaktionen zu erzielen. Dagegen fallen Transaktionen, die zwar im Zusammenhang mit dem Vorhaben durchgeführt werden und den Zusammenschluss ergänzen oder vorbereiten, aber keinen unmittelbaren funktionalen Zusammenhang mit dem Vollzug des Zusammenschlusses aufweisen, und nicht erforderlich sind, um einen Kontrollwechsel herbeizuführen, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 FKVO.

Dem Argument, dass die Überprüfung durch die Kommission nicht gefährdet sei, da die Kontrolle erst nach der Freigabe erworben worden sei, entgegnete das EuG, dass Canon die Begriffe „Vollzug“, der ich auf den Zusammenschluss selbst bezieht und langfristig sein kann, und „Erwerb“, der sich auf die Kontrolle bezieht und zu einem einzigen Zeitpunkt stattfindet (d.h. die Kontrolle wird entweder erworben oder nicht, es gibt keine „Teilkontrolle“), verwechselt hatte.4

Darüber hinaus stellte das EuG im Einklang mit der Kommission fest, dass (i) die vorläufige Transaktion lediglich im Hinblick auf die endgültige Transaktion durchgeführt wurde, (ii) die MS Holding nur zu dem Zweck gegründet wurde, Canon den Kontrollerwerb zu erleichtern, und kein wirtschaftliches Interesse an der TMSC hatte, das über ihre Rolle als vorläufiger Käufer, für die sie einen Festpreis erhielt, hinausging, und (iii) Canon durch die Zahlung des vollen Preises in der vorläufigen Transaktion in die Lage versetzt wurde, die Identität des endgültigen Erwerbers zu bestimmen und das wirtschaftliche Risiko der gesamten Transaktion trug (d.h. die Aktienoptionen waren nicht „echt“).5

Kommentar und Ausblick

Das Urteil des EuG wirft ein neues Licht auf die Frage, wann vorläufige Maßnahmen bei mehrstufigen M&A-Transaktionen als Teilvollzug einer Transaktion angesehen werden können. Im Urteil wird klargestellt, dass bestimmte vorläufige Transaktionen auch dann als „Gun Jumping“ eingestuft werden und zu erheblichen Bußgeldern führen können, wenn sie nicht die Kontrolle über die Zielgesellschaft begründen, sondern lediglich zu einer Kontrolländerung „beitragen“. Aus praktischer Sicht gibt es keine klare Trennlinie, und eine Bewertung ist unter Berücksichtigung aller rechtlichen und praktischen Umstände vorzunehmen. Der Trend der Wettbewerbsbehörden zur Durchsetzung von Verstößen gegen das Vollzugsverbot und die Anmeldepflicht sowie die jüngsten Urteile auf EU-Ebene6, die die Bußgeldentscheidungen der Kommission gegen „Gun Jumping“ bestätigen, sollten von Unternehmen (und ihren M&A-Anwälten) bei der Gestaltung der Transaktionsstruktur nicht unterschätzt werden.

Diese Veröffentlichung wurde ausschließlich zu Informationszwecken erstellt. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und stellt keine Rechtsberatung dar. Jegliche Haftung im Zusammenhang mit der Nutzung der Informationen sowie ihrer Richtigkeit wird ausgeschlossen.

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Quellen

  1. Kommission, M.8179 – Canon / Toshiba Medical Systems
    Corporation, 27. Juni 2019.
  2. EuG, T-609/19, Canon v Commission
  3. Ibid, Rn. 65, 73.; EuGH, C-633/16 – Ernst & Young, 31.
    Mai 2018.
  4. Ibid, Rn. 78-79.
  5. Ibid, Rn. 108 ff., 121 ff., 187 ff.
  6. EuGH, C-10/18 P – Marine Harvest v Commission, 4. März
    2020; EuG, T-425/18 – Altice v Commission, 22. September
    2021; Siehe auch Commeo Newsletter vom 27. April 2018
    und 31. März 2017.

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