Am 9. Juli 2025 hat das Gericht der Europäischen Union („Gericht“) seine Entscheidung in der Rechtssache Compagnie Générale des Établissements Michelin gegen Europäische Kommission (T-188/24) verkündet.1 Der Fall betraf die Rechtmäßigkeit der Durchsuchungsentscheidung der Kommission gegen Michelin aus dem Jahr 2024 im Rahmen der laufenden Kartelluntersuchung im Reifensektor (Sache AT.40863), in der geprüft wird, ob führende Reifenhersteller die Verkaufspreise für neue Ersatzreifen für PKW und LKW durch sogenannte „Earnings Calls“ koordiniert haben, was zu illegalen Preis-Signaling führen kann.
Das Gericht hat die Entscheidung der Kommission zur Durchsuchung (Dawn Raid) in den Räumlichkeiten von Michelin wegen des Verdachts der Preisabsprache bestätigt. Es erkannte einen begründeten Anfangsverdacht für öffentliches Signaling hinsichtlich künftiger Absichten und Preisstrategien. Eine Aufhebung erfolgte nur in Bezug auf einen früheren Zeitraum des möglichen Verstoßes.
Der Verdacht basierte auf der Analyse von Hunderttausenden von Earnings Calls mittels künstlicher Intelligenz („KI“). Earnings Calls werden regelmäßig zwischen der Unternehmensleitung und Analysten, Investoren und den Medien organisiert, um die Finanzergebnisse des Unternehmens zu erörtern. Die Mitschriften sind meist öffentlich zugänglich, da Unternehmen sie auf ihren Webseiten oder in kostenpflichtigen Datenbanken bereitstellen. Die Analyse der Mitschriften erfolgte durch die Anwendung von Suchbegriffen aus zwei aufeinanderfolgenden Wörtern („Bigrammen“), um Aussagen zu strategischen Geschäftsentscheidungen oder zum Verhalten von Wettbewerbern in der Vergangenheit und Zukunft zu identifizieren. In quantitativer Hinsicht stellte die Kommission fest, dass die Häufigkeit der Verwendung der Bigramme auffällig war. Der Verdacht wurde durch eine qualitative („manuelle“) Analyse des spezifischen Kontexts der Bigramme bestätigt.2
Vor Gericht beantragte Michelin die Aufhebung der Durchsuchungsentscheidung der Kommission, da die Begründung übermäßig knapp, allgemein, vage und mehrdeutig und somit unzureichend sei. Dieses Argument wurde vom Gericht zurückgewiesen, da die Entscheidung den Gegenstand und den Zweck der Durchsuchung angab. Da Durchsuchungen in einer frühen Ermittlungsphase stattfinden, sei eine spezifische rechtliche Bewertung nicht erforderlich.3
Weiter argumentierte Michelin, dass die Entscheidung ihr Recht auf Achtung ihres Sitzes und ihrer Kommunikation verletze. Sie sei willkürlich, da es an einem hinreichenden Anfangsverdacht fehle. Dies zeige die ungenaue Beschreibung des mutmaßlichen Verstoßes und die übermäßige Fokussierung auf die öffentliche Kommunikation. Die qualitative Analyse sei unzulänglich, da die Bigramme etwa durch die Umsetzung einer innovationsbasierten Industriestrategie, externen Inflationsdruck oder die Notwendigkeit, auf Fragen von Analysten zu antworten, erklärbar seien. Auch dienten Earnings Calls für ein in Frankreich ansässige Unternehmen wie Michelin der Erfüllung der gesetzlichen Transparenzanforderungen.4
Das Gericht bewertete die von der Kommission vorgebrachten Gründe als für den Hauptzeitraum ausreichende Basis für eine Durchsuchungsanordnung. Das Ergebnis der quantitativen und qualitativen Analyse der Earnings Calls genüge als Anhaltspunkt für den Anfangsverdacht einer Preisabsprache, zumal die Preisankündigungen der wichtigsten Reifenhersteller nach den Feststellungen der Kommission im relevanten Zeitraum oft in engem zeitlichem Zusammenhang standen und den Änderungen der Einkaufspreise für Rohstoffe und Energie entsprachen.5
Preis-Signaling bezeichnet die Nutzung öffentlicher Kommunikationskanäle durch Unternehmen, um sich gegenseitig über ihre zukünftigen Absichten und Preisstrategien zu informieren und ihre jeweiligen Preisstrategien zu beeinflussen. In der vorliegenden Entscheidung betont das Gericht das grundsätzliche Recht, Earnings-Calls abzuhalten. Der Umstand, dass diese der Einhaltung von Transparenzvorgaben dienen oder die Informationen als Antwort auf Fragen externer Dritter mitgeteilt werden, schließt jedoch eine verbotene Kollusion nicht aus.
Nach Auffassung der Kommission können öffentliche Äußerungen in Earnings Calls einseitige Aufforderungen zur Kollusion darstellen.6 Dies dürfte ebenso für andere öffentliche Bekanntgaben von Preisstrategien, z. B. in der Presse oder auf Webseiten, gelten. Einige Konstellationen könnten nach Ansicht der Kommission sogar eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung darstellen, wenn andere Wettbewerber zeitgleich Erklärungen abgeben oder ihr Verhalten nahelegt, dass sie diese Aufforderung bei der Bestimmung ihres eigenen künftigen Marktverhaltens berücksichtigen.
Auch wenn das Urteil des Gerichts streng auf die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und die Frage beschränkt ist, ob ausreichende Gründe für den Anfangsverdacht (und nicht mehr) einer Zuwiderhandlung vorlagen, zeigen die Ermittlungen der Kommission, dass sie nicht zögert, öffentliche Mitteilungen zu prüfen, wenn weitere Indizien den Verdacht auf Signaling stützen.
Die Untersuchung der Kommission war das Ergebnis einer proaktiven Überprüfung öffentlicher Daten mit einem digitalen Tool zur Analyse zahlreicher Earnings Calls aus verschiedenen Branchen. Der Einsatz solcher Tools wurde nun vom Gericht implizit bestätigt.
Dies könnte eine wirksame neue Informationsquelle für die Kommission darstellen, zumal Kronzeugenanträge von Kartellmitgliedern in den letzten Jahren angesichts der Auswirkungen auf follow-on Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten stark zurückgegangen sind. In der Folge ist auch die Anzahl der Kartellermittlungen und der von der Kommission verhängten Geldbußen rückläufig. Da die Kommission Informationen fast nur noch aus Meldungen über ihr Whistleblower-Tool oder aus Kundenbeschwerden erhält, wird sie bestrebt sein, ihre Ermittlungsaktivitäten durch Einsatz neuer Technologien intensivieren zu können.
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